Grundgesetz, Art. 3, Paragraph 3: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. (…)“
Aktuell entsprechen die rechtlichen Grundlagen zum herkunftssprachlichen Unterricht / erstsprachlichen Unterricht auch in Niedersachsen nicht annähernd den Herausforderungen der heutigen globalisierten Welt, in welcher Vielfalt, Teilhabe und Chancengerechtigkeit nicht nur sinnentleerte Schlagwörter, sondern selbstverständliche Werte unseres Zusammenlebens sein sollten. Mit unserem Forderungskatalog wollen wir darüberhinaus deutlich machen, dass es sich bei der zufriedenstellenden Umsetzung des HU/ erstsprachlichen Unterrichts nicht um eine insuläre, sondern um eine systemisch angelegte Fragestellung handelt, die auf verschiedenen Ebenen behandelt werden muss: Entwicklungen müssen in Politik, Justiz, Verwaltung, Lehrer*innenausbildung, Schulleitung, bei den Kerncurricula und Unterrichtsmaterialien sowie bei der Beteiligung der Erziehungsberechtigten stattfinden. Durch die systemische Herangehensweise an das Thema Mehrsprachigkeit kann die Demokratie in unseren Schulen, dem für unsere Kinder und Jugendlichen wichtigsten Ort für ihr Erleben von Vielfalt, Miteinander und Inklusion, gestärkt werden. Dieses verlangt sowohl von der Gesellschaft als auch von der Politik eine besondere Haltung ab: Eine Wertschätzung der kulturellen Vielfalt, der Mehrsprachigkeit und letztlich das Anerkennen der Lebensrealitäten des 21. Jahrhunderts. Lassen Sie uns Vielfalt leben und jedem Kind das Recht auf seine Sprache zurückgeben.
Sowohl im Kontext der im vereinten Europa angestrebten Mehrsprachigkeit als auch im Lichte der Globalisierung ist die Förderung der Herkunftssprachen / Erstsprachen bzw. der natürlichen Mehrsprachigkeit von essenzieller Bedeutung. Dazu gehören der Ausbau des Fremdsprachenunterrichts (Aufnahme weiterer Sprachen) und die Förderung der natürlichen Mehrsprachigkeit durch die Gleichstellung von Erstsprachen und Pflichtfremdsprachen als Prüfungssprachen und dadurch die Aufwertung des HUs / erstsprachlichen Unterrichts im Schulwesen der Länder.
Derzeit wird der Erlass „Förderung von Bildungserfolg und Teilhabe von Schülerinnen und Schülern nicht – deutscher Herkunftssprache“ durch das Niedersächsische Kultusministerium überarbeitet und aktualisiert. Mit Anerkennung begrüßen wir die ersten behördlichen Schritte auf diesem Weg und befürworten eine entsprechende Ausrichtung des neuen Erlasses. Als Migrantenselbstorganisationen und Interessenvertretung zugewanderter Eltern in Niedersachsen betrachten wir es als eine Chance, den Sprachenunterricht – der gesellschaftlichen Entwicklung folgend – grundsätzlich neu aufzustellen. Daher fordern wir das Kultusministerium auf, der Sprachenvielfalt unter den Schüler*innen Rechnung zu tragen und dieses Potenzial gezielt zu fördern, indem Vielsprachigkeit als grundlegendes Strukturelement der schulischen Bildung verankert und ausgebaut wird.
Wir fordern einen Paradigmenwechsel, der sich im Schulalltag manifestiert. Die Grundlagen für eine multilinguale Gesellschaft, ein multilinguales Europa und eine multilinguale Welt werden in den Bildungsinstitutionen gelegt. Gleichzeitig werden dadurch wichtige Voraussetzungen für eine tatsächliche Anerkennung und Wertschätzung der Vielfalt in der Bevölkerung Niedersachsens
geschaffen.
Ausgangssituation in Niedersachsen
- In Niedersachsen existiert aktuell ausschließlich ein Angebot für HU/ erstsprachlichen Unterricht, die Öffnung der Mehrsprachigkeit für alle Schüler*innen ist im Erlass über den HU zwar vorgesehen, jedoch nur als Wahl- bzw. Wahlpflichtunterricht möglich und rechtlich nicht verbindlich.
- Das Angebot für HU/ erstsprachlichen Unterricht ist für die Schulbehörden nicht verpflichtend (siehe „Förderung von Bildungserfolg und Teilhabe von Schülerinnen und Schülern nicht – deutscher Herkunftssprache“, Punkt 8.1.1.), was die Bestimmungen der Artikel 29, Absatz 1, Buchstabe a und c des Übereinkommens über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention) wie auch Artikel 2, Punkt 2 und Artikel 3, Punkt 1 und 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland nicht erfüllt.
- Informationen über HU/ erstsprachlichen Unterricht für Erziehungsberechtigte/ Schüler*innen seitens des Kultusministeriums und der Regionalen Landesämter für Schule und Bildung fehlen, z.B. im Rahmen des Internetauftritts.
- Aktive „Initiativinformation“ (ggf. verbunden mit Anmeldung) für Erziehungsberechtigte/ Schüler*innen bei der Schulanmeldung des Kindes (bei allen Schulformen) fehlen überwiegend.
- Die Bedarfsermittlung erfolgt zu spät, was die bedarfsgemäße und zeitnahe Organisation eines entsprechenden Angebotes verhindert.
- Ein Kerncurriculum für HU/ erstsprachlichen Unterricht existiert in Niedersachsen bislang nur für die Primarstufe. Es existiert nicht für die weiterführenden Schulen.
- Schülerinnen auf dem Land und mit seltenen Erstsprachen werden benachteiligt.
Unsere Forderungen
Die Vorteile einer praktizierten Mehrsprachigkeit für das Individuum sind in vielen Studien untersucht worden. Vor dem Hintergrund der politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung Europas und der Welt im Kontext zunehmender Globalisierung und Kooperation wirkt sich die Mehrsprachigkeit auch und vor allem positiv auf die interkulturelle Kommunikations- und Handlungsfähigkeit aus.
Die Mehrsprachigkeit der Kinder und Jugendlichen gehört mittlerweile zum Alltag auf dem Schulhof in Deutschland. Es ist an der Zeit, dieser Tatsache auch im Unterrichtsangebot Rechnung zu tragen. Unsere Forderungen beziehen sich auf drei zentrale Bereiche, die wir weiter unten erläutern werden.
A) Erhebung, Förderung und Anerkennung der Kompetenzen in den Erstsprachen
B) Mehrsprachigkeit für alle Kinder
C) Vielfalt unter den Lehrerkräften
A) Erhebung, Förderung und Anerkennung der Kompetenzen in den Erstsprachen
Die Regelungen zum HU/ erstsprachlichen Unterricht beschränkten sich bisher auf den Primarbereich, sind als unverbindlich anzusehen und daher rechtlich nicht einforderbar. Bezugnehmend auf den geltenden Erlass stellen wir daher folgende Forderungen auf:
- Ein ganzheitliches Konzept für die durchgängige Sprachbildung unter Einbeziehung der Bildungsbiografie, der Themen und Lernfelder und der Mehrsprachigkeit, beginnend bei den Kindertagesstätten über die Grundschulen bis hin zu den weiterführenden Schulen, soll entwickelt und angewendet werden.
- Der Unterricht von Erstsprachen soll vor dem Hintergrund der von der Forschung belegten positiven Auswirkung auf den Zweitspracherwerb als flankierende Maßnahme zum Erwerb von Deutsch als Bildungssprache ausgebaut werden.
- Bildungsstandards für weitere von Schülerinnen gesprochene Erstsprachen müssen durch die KMK entwickelt werden.
- Bundesweit müssen einheitliche Kerncurricula für Erstsprachen im Sinne von Chancengerechtigkeit und eine Didaktik der Erstsprachen auch für Sprachen, die in Minderheiten gesprochen werden entwickelt werden (aktuell gibt es nur Bildungsstandards für Englisch und Französisch).
- Informationen über die bei den Schülerinnen aller vorhandenen Sprachkompetenzen müssen bereits bei der Schuleingangsuntersuchung bzw. vor der Einschulung mit standardisierten Verfahren erhoben werden.
- Zeugnisse aus den Herkunftsländern, mit denen ein Vollzeitunterricht in der jeweiligen Erstsprache nachgewiesen werden kann, sollen als Nachweis einer Sprachkompetenz in der Erstsprache anerkannt werden.
- Moderne Anfängerlehrwerke, die systematisch den Wortschatz der vorhandenen Erstsprachen aufgreifen, müssen eingesetzt werden.
- Der HU/ erstsprachliche Unterricht wird von einem Kann-Angebot zu einem Pflichtangebot (bei entsprechendem Bedarf) weiterentwickelt.
- Auf die Mindestgruppenstärke bei HU/ erstsprachlichen Unterricht in der Grundschule muss verzichtet werden, bei Bedarf müssen regional/ landesweit einzelne Schülerinnen verschiedener Schulen zu einer Lerngruppe zusammengeführt und digitale Formate für den HU/ erstsprachlichen Unterricht eingeführt werden.
- Das Potential des Distanzlernens (Einrichtung von Blended-Learning-Formaten) für Schüler*innen des Sekundarbereichs I und II (z.B. auch digital und/ oder länderübergreifend) muss ausgeschöpft werden.
Bisher dürfen nach Punkt 7.1.2. des Erlasses „Förderung von Bildungserfolg und Teilhabe von Schülerinnen und Schülern nicht – deutscher Herkunftssprache“ Leistungen in der „Herkunftssprache“ nur anstelle der Leistungen in einer der Pflichtfremdsprachen treten und durch eine Sprachfeststellungsprüfung nachgewiesen werden, wenn ein Nachlernen der Pflichtfremdsprachen (i.d.R. Englisch) nicht möglich ist. Die Entscheidung darüber unterliegt stets einer Einzelfallprüfung.
Da dieses Vorgehen einer Diskriminierung anderer „Herkunftssprachen“ bzw. Erstsprachen gleicht, stellen wir folgende Forderungen:
- Der neue Erlass soll Erstsprachen den Pflichtfremdsprachen gleichstellen. Das bedeutet: Für alle Sprachen, die (als Sprache) zu bestimmende Mindestkriterien erfüllen, soll ein Rechtsanspruch auf eine Prüfung bestehen. Die überprüfte Sprachkompetenz soll einer Teilnahme am Fremdsprachenunterricht gleichgestellt werden.
- Der Rechtsanspruch auf eine individuelle Sprachfeststellungsprüfung (Sprachstandsprüfung) in der Erstsprache soll unabhängig von der Herkunft und der Aufenthaltsdauer in Deutschland bestehen. Die erreichte Leistung soll als versetzungsrelevante Note im Zeugnis erscheinen.
- Ein Pool von Prüfungsberechtigten soll schulstandortübergreifend bzw. bei seltenen Sprachen landes-/ bundesweit aufgebaut werden. Menschen mit entsprechenden Sprachkompetenzen werden angeworben und geschult. Hier kann länderübergreifend kooperiert werden.
- Die Bildungsstandards müssen durch die Kultusministerkonferenz bearbeitet und um weitere Sprachen erweitert werden (aktuell gibt es nur Bildungsstandards für Englisch und Französisch).
- Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung (EPA) sollen durch die Kultusministerkonferenz für weitere Sprachen verabschiedet werden.
- Die Möglichkeit die Sprachenfolge im Schulprogramm zu ändern, z.B. durch die Aufnahme weiterer Sprachen als Pflichtfremdsprachen, soll gegeben sein.
Die HUBE-Studie aus dem Jahre 2016 zeigt, dass 65 % der befragten Erziehungsberechtigten den Unterricht in der Herkunftssprache an deutschen Schulen nicht kennen. Hier gibt es demnach einen
hohen Beratungsbedarf.
- Erziehungsberechtigte müssen über den zukünftigen Rechtsanspruch und das Angebot an HU/ erstsprachlichem Unterricht informiert werden. Informationen über das Unterrichtsangebot von Erstsprachen für Eltern in allen im Land wichtigen „Migrantinnensprachen“ müssen veröffentlicht werden (sowohl leicht auffindbar auf den Internetseiten der Kultus- bzw. Bildungsministerien, den Regionalen Landesämtern für Schule und Bildung sowie auf den Seiten der Schulen als auch als mehrsprachige Infomaterialien).
- Best-Practice-Lösungen aus anderen Bundesländern können hinzugezogen und übernommen werden. Die Beratung und ggf. Anmeldung muss bereits bei der Schuleingangsuntersuchung erfolgen.
B) Mehrsprachigkeit für alle Kinder
Die Mehrsprachigkeit aller Schülerinnen im Unterricht soll aktiviert werden, indem der Unterricht für Mehrsprachigkeit geöffnet und der Fachunterricht mit dem Unterricht in den Erstsprachen verzahnt wird. Insbesondere das Konzept des Translanguaging erlaubt allen mehrsprachigen Schülerinnen, ihr Verständnis des Unterrichtsstoffes durch Rückgriff auf die ihnen vertrauten Sprachen zu verbessern, wodurch die sprachliche Hierarchie innerhalb des Klassenraums mit monolingualem Fokus kein Hindernis für den schulischen Erfolg mehr darstellt.
Folgende Maßnahmen müssen ergriffen werden, um das Konzept Translanguaging in den Schulen in verschiedenen Unterrichtsfächern zu verankern:
- Lehrkräfte sollen durch Aus- und Weiterbildung für Interkulturalität und Mehrsprachigkeit und den Umgang mit dem Konzept Translanguaging sensibilisiert werden.
- Fortbildung für Schulleiterinnen im Bereich der Mehrsprachigkeit und Interkulturalität müssen obligatorisch sein.
- Curricula und Unterrichtsmaterialien, die die Nutzung der Ressource Mehrsprachigkeit auch im Fachunterricht fördern, und mehr Lese- und Unterrichtsmaterialien in Erstsprachen sind zu entwickeln.
Der HU/ erstsprachliche Unterricht ist eine wesentliche Grundlage für die Entwicklung der angestrebten Mehrsprachigkeit.
C) Vielfalt unter den Lehrkräften
Die Gleichberechtigung und Anerkennung von Menschen mit Migrationsgeschichte im
niedersächsischen Schulsystem muss gefördert werden. Im Lichte des allgemeinen Lehrkräftemangels und insbesondere des Lehrkräftemangels für HU/ erstsprachlichen Unterricht müssen die Zugänge für ausländische Lehrkräfte, die in Niedersachsen arbeiten wollen, verbessert werden. Auch Lehrkräfte mit Deutsch als Erstsprache können auf der Basis ihrer multilingualen Kompetenzen weitergebildet
werden, um den Ansprüchen des HUs/ erstsprachlichen Unterrichts gerecht zu werden. Nur so kann die Basis für die Verwirklichung einer demokratischen, multikulturellen und chancengerechten Schule geschaffen werden. Daher fordern wir:
- Die Anerkennungsverfahren für ausländische Lehrkräfte aus EU- und Drittstaaten müssen vereinfacht und verkürzt werden.
- Eine Ein-Fach-Anerkennung ist einzuführen (vergl. Quereinstieg), optional wird die Sprachkompetenz in der Erstsprache für den bilingualen Unterricht bzw. Unterricht und Prüfungen in der Erstsprache anerkannt. Übergangsweise soll die Möglichkeit bestehen, ein Zweitfach ohne finanzielle Nachteile nebenberuflich nachzustudieren.
- Anpassungslehrgänge und entsprechende Unterstützungsstrukturen müssen niedersachsenweit und auch in Teilzeit umgesetzt werden. Die Anforderungen an das Sprachniveau der deutschen Sprache müssen den geplanten Einsätzen der Lehrkräfte in den Schulen entsprechen.
- Es müssen gezielt Lehrkräfte für HU/ erstsprachlichen Unterricht ausgebildet und eingestellt werden.
- Der Status und die Bezahlung von Lehrkräften für Unterrichtsangebote in den Erstsprachen sind denen anderer Lehrkräfte gleichzustellen → Europarechtskonforme Anerkennungsverfahren (Entgeltstufen/ Erfahrungsstufen, Deutsch-Zertifikate).
- Alle Lehrkräfte müssen hinsichtlich der Vorteile des HUs/ erstsprachlichen Unterrichts für das Erlernen weiterer Fremdsprachen sowie für die psychosoziale Entwicklung der Schüler*innen ausgebildet werden.
- Lehrkräfte müssen über den angestrebten zukünftigen Rechtsanspruch und das Angebot an HU/ erstsprachlichem Unterricht informiert werden.
- Die Lehrkräfteaus- und weiterbildung für alle Lehrkräfte muss angepasst und verpflichtend umgesetzt werden. Hierfür müssen schulinterne Lehrerfortbildungen (SchiLf) entwickelt und angeboten werden.